Artikel

Hin und wieder bin ich auch journalistisch tätig und veröffentliche Artikel und Aufsätze in Zeitungen, Zeitschriften und Katalogen.

Hier zwei Artikel, die ich für das Online-Magazin seemoz geschrieben habe.

Die geheimen Elixiere des Paolo Gorini

Zum 200sten Geburtstag des „Zauberers von Lodi“ – Konstanz’ Partnerstadt – ein Essay der Konstanzer Autorin Monika Küble

Gorini

Man schreibt das Jahr 1872. In Pisa stirbt der Revolutionär Giuseppe Mazzini, einer der Architekten des geeinten Italiens. Sein Lebenswerk ist 1870 mit der militärischen Einnahme des Kirchenstaats und der Hauptstadt Rom durch italienische Truppen vollendet worden, und das neue Italien will seines Helden nun auf ewig gedenken. So wird Paolo Gorini aus Lodi gerufen.

Die Gesellschaft der Toten
Dieser geniale Naturwissenschaftler wurde vor 200 Jahren, am 28. Januar 1813, in Pavia geboren. Der Junge war 12 Jahre alt, als er miterleben musste, wie der geliebte Vater unter den Hufen durchgehender Pferde den Tod fand. Diese Erfahrung bestimmte sein ganzes Leben. Zeitgenossen beschreiben ihn später als melancholisch, menschenscheu, eigenbrötlerisch, der Tod wurde sein ständiger Begleiter. Er selbst schreibt: „Dieser Tag war der schwärzeste in meinem Leben, er schied das Licht von der Finsternis. […] Die meiste Zeit meines Lebens habe ich – ohne allzu sehr darunter zu leiden – der Gesellschaft der Lebenden die Gesellschaft der Toten vorgezogen.“ Wie sein Vater studierte Paolo Gorini Mathematik, Physik und Geologie. Seit 1834 arbeitete er als Physikprofessor am Lyzeum von Lodi, in der Nähe von Mailand. Mit 45 Jahren wurde er frühpensioniert, 1881 starb er in Lodi.
Paolo Gorinis Epoche war die Zeit des „Risorgimento“, des Freiheitskampfes der Italiener gegen Kirche und Fremdherrschaft, die Zeit von Helden wie Mazzini oder Garibaldi und deren Streben nach der Einheit Italiens. Auch Gorini engagierte sich im patriotischen Kampf und musste während der Revolution 1848 zeitweilig in die Schweiz flüchten, weil er für die Revolutionäre spezielle Minen erfunden und gebaut hatte.

Vulkane und Mumien
Der stets neugierige Naturwissenschaftler Paolo Gorini widmete sein Leben jedoch vor allem zwei skurril anmutenden Themen: Vulkanologie und Mumifizierung. Er entwickelte eine eigene Theorie über die Entstehung der Erde und damit auch der Vulkane. Seiner Vorstellung nach war die Erde ursprünglich eine glühende Kugel gewesen. Bei deren Abkühlung entstand eine feste Erdkruste, in der riesige Blasen aus glühender Materie und Gas eingeschlossen waren, die noch heute existieren. Diese „plutonische Materie“ sei verantwortlich für Vulkane und Erdbeben, und auch die Gebirge seien nichts anderes als erloschene Vulkane.
Um seine Theorie zu beweisen, unternahm er diverse Experimente. Schon als Kind besorgte er sich Schießpulver, um mit Explosionen Vulkanausbrüche nachzuahmen, und als Erwachsener baute er in den Straßen von Lodi und Genua kleine Vulkane, in denen er bestimmte mineralische Mischungen zum Schmelzen und Explodieren brachte.
Aber noch faszinierender waren für Gorini Tod und Verwesung. Als Junge sammelte er Brotkrümel, legte sie in beschriftete Holzkästchen und beobachtete den Zersetzungsprozess. Später verlegte er sein Interesse auf tote Menschen. Dabei experimentierte er in zwei Richtungen: Zum einen konstruierte er besonders effektive Krematorien, die in Lodi, Mailand und England gebaut wurden. Zum anderen entwickelte er mehrere Methoden, um tote Körper zu mumifizieren.
In einem Zeitalter ohne Röntgenuntersuchungen und Computertomographie bestand für Ärzte die einzige Möglichkeit, Krankheiten genauer zu untersuchen, darin, die Verstorbenen nach ihrem Tod aufzuschneiden. Dafür mussten die Leichen aber irgendwie konserviert werden. Auch für Medizinstudenten war die Möglichkeit anatomischer Studien an toten Körpern enorm wichtig, und so suchten zahlreiche Wissenschaftler Methoden zur Einbalsamierung von Leichen und Leichenteilen. Nicht umsonst entstand zu jener Zeit der Roman um den genialischen Wissenschaftler Dr. Frankenstein.
Die Stadt Lodi stellte ihrem genialischen Wissenschaftler Paolo Gorini die ehemalige Kirche San Nicolò als Laboratorium zur Verfügung. Sie lag direkt neben dem Krankenhaus, und Gorini erhielt für seine Experimente die Leichname von Menschen, die keine Angehörigen mehr hatten oder für deren Beerdigung niemand bezahlen wollte. Daraus fertigte er seine Präparate, die er mit großem Erfolg in Ausstellungen präsentierte, unter anderem in Frankreich und England.

Die teuflischen Elixiere des „Zauberers“
Paolo Gorini entwickelte unterschiedliche Einbalsamierungsrezepte, von denen man glaubte, er hätte sie mit ins Grab genommen. Seine schriftlichen Unterlagen wurden jedoch 1963 zufällig wieder entdeckt, und dabei stellte sich heraus, dass seine „Geheimelixiere“ je nach erforderlicher Konservierungsdauer aus Schwefelsäure, Kalziumchlorid oder schlicht Weingeist bestanden. Doch so wie heute Gunter von Hagens mit seinen „Körperwelten“ war auch Paolo Gorini nicht unumstritten.
Während die meisten Mitbürger ihn ehrfurchtsvoll „il Mago“, den Zauberer, nannten, protestierte vor allem die Kirche gegen die „teuflischen“ Experimente. Seine Unterkunft in einem Haus des Frauenklosters Sankt Anna wurde ihm bald gekündigt, und nachdem er die Wohnung verlassen hatte, ließen die frommen Schwestern in den Räumen einen Exorzismus durchführen und das ganze Haus bis in den Keller mit Weihwasser besprenkeln. Dass er dennoch mit Unterstützung der Stadt Lodi seine Experimente durchführen konnte, ist ein deutliches Zeichen für die neue laizistische Kultur in der Lombardei nach der Einigung Italiens im 19. Jahrhundert.

Gorini und Mazzini
Für Paolo Gorini gab es drei verschiedene Gründe für die Mumifizierung – er nannte es „Imbalsamazione“ – von Leichen und Leichenteilen. Zum einen benötigten die Universitäten für ihre Medizinstudenten immer mehr Material für Sektionen, außerdem mussten die vielen neuen anatomischen Museen mit Körperteilen und Organen bestückt werden, die dauerhaft konserviert waren.
Aber vor allem war da die Erinnerungsfunktion: Eine mumifizierte Leiche ist besser als eine Statue, natürlicher, als jeder Bildhauer sie gestalten könnte, „versteinertes Fleisch“. Und damit sind wir wieder bei Giuseppe Mazzini. Gorini hat längere Zeit an dessen Körper gearbeitet, über Jahre hinweg, immer wieder. So gut ist die Mumie erhalten, dass sie 1946 anlässlich der Geburt der Italienischen Republik der erstaunten Öffentlichkeit präsentiert werden konnte. Seitdem ruht sie wieder in ihrem Sarkophag auf dem Cimitero Monumentale di Staglieno in Genua, dessen Inschrift lautet: Il corpo a Genova, il nome ai secoli, l’anima all’umanità – Sein Körper den Genuesen, der Name den Jahrhunderten, seine Seele der Menschheit.

Die „Collezione Anatomica Paolo Gorini“
Andere Ergebnisse von Paolo Gorinis Forscherdrang kann man indes noch heute besichtigen. Die Stadt Lodi hat für seine anatomische Sammlung die Räumlichkeiten der früheren Apotheke des Ospedale Maggiore zur Verfügung gestellt. Dieses Krankenhaus war im 15. Jahrhundert vom Bischof gegründet worden. Zur Versorgung der Kranken hatte er Bernhardinermönche in die Stadt geholt, sodass das Krankenhaus zugleich ein Kloster war. Deshalb geht man zum Museum von Paolo Gorini durch einen wunderschönen Kreuzgang mit typischen Terrakottaverzierungen der Lombardei. Im ehemaligen Kapitelsaal der Mönche, dessen Decke mit manieristischen Malereien geschmückt ist, kann man in Vitrinen die anatomischen Präparate, aber auch komplett konservierte Leichname betrachten. Teilweise sind sogar die Namen der Verstorbenen noch bekannt.

Diese Sammlung ist auch für heutige Mediziner interessant, zeigen die Mumien doch Missbildungen und Erkrankungen, die heute kaum mehr vorkommen. Aber auch Soziologen und Historiker finden hier reichlich Material für ihre Studien, denn die mumifizierten Toten geben aufgrund ihrer Herkunft aus ärmeren Bevölkerungsschichten Auskunft über Ernährung, Hygiene und Krankheiten vor allem jener Menschen, die sonst von der Geschichtsschreibung eher außer Acht gelassen werden. Paolo Gorini hat ihnen ein Denkmal gesetzt, Erinnerungen aus versteinertem Fleisch. Für ihn selbst steht allerdings „nur“ ein Denkmal aus gewöhnlichem Stein auf der Piazza vor dem Museum.

Erschienen 2013 auf www.seemoz.de

Neues Leben nach dem Beben?

Acht Monate ist es her, dass in den italienischen Abruzzen die Erde bebte und die Stadt L’Aquila zerstört wurde. 300 Menschen sind am 6. April 2009 ums Leben gekommen, 58000 haben ihre Heimat verloren. Der Wiederaufbau kommt nur schleppend voran.
Zwar haben sich alle wichtigen Minister schon einmal medienwirksam im Katastrophengebiet sehen lassen und das Blaue vom Himmel herab versprochen. Doch geschah zunächst wenig, sodass eine Abordnung der Erdbebenopfer im Sommer eine Protestdemonstration nach Rom unternommen hat, worauf weitere Versprechungen folgten.

Auch dass der italienische Regierungschef Silvio Berlusconi den G-8-Gipfel nach L’Aquila verlegte, löste bei den Bewohnern wenig Begeisterung aus, weil dadurch die Arbeiten eher gestört als gefördert wurden. Die Leute in den 180 Zeltlagern wurden schließlich ungeduldig; den Ratschlag Berlusconis, das Ganze als Campingurlaub zu sehen, hatten sie lang genug befolgt.
Die Mafia ist mit von der Partie
Mittlerweile sind die Zeltunterkünfte abgerissen und die Obdachlosen in provisorische Holzhäuser umgezogen, deren Bau zwar vom italienischen Roten Kreuz finanziert wurde, die Premier Berlusconi aber trotzdem als „seine“ Häuser bezeichnet. Etwa 20000 Menschen sind noch in Hotelzimmern in Ortschaften an der Adria einquartiert. Wo neu gebaut wird, sind die Wohnungen überteuert und die Mafia hat die Hände im Spiel.

Lernen vom Friaul
„Die Menschen in L’Aquila sollten aus unserer Erfahrung lernen!“ sagt Aldo di Bernardo aus Venzone im Friaul. Er ist einer, der es wissen muss.
6.Mai 1976, 21 Uhr. Es war ein heißer Tag, fast sommerlich, und die Menschen im Norden der Region Friaul-Julisch Venetien, in Gemona, Venzone oder Osoppo, sitzen beim Abendessen. Plötzlich eine leichte Erschütterung, nur kurz. Alle atmen auf, glauben sich wieder sicher. Doch nur Augenblicke später bricht die Hölle los. Ein Erdbeben der Stärke 6,5 auf der Richterskala erschüttert fast eine Minute lang die Region um den Tagliamentofluss, am Übergang zwischen Karnischen und Julischen Alpen.
Noch am gleichen Abend wird ein Radiosprecher mit erstickter Stimme berichten: „Osoppo hat aufgehört zu existieren…. Gemona ist eine Stadt der Toten und Verletzten. Venzone ist ein einziges Trümmerfeld. Und genauso sieht es in Buia, Magnano, Artegna,… aus.“ Die Liste der Orte, wo es genauso aussieht, geht noch unendlich lange weiter. Ein Gebiet von 5000 qkm wurde erschüttert, 989 Tote und tausende von Verletzten sind zu beklagen, etwa 80000 Menschen haben ihr Heim verloren.

2500 Erdstöße in wenigen Monaten
In den folgenden Monaten werden weitere 2500 Erdstöße dem ersten verheerenden folgen, noch einmal 12 Tote wird ein zweites großes Beben am 15. September des gleichen Jahres fordern. Erst dann beruhigt sich die Erde langsam wieder.
Der Norden des Friauls liegt in einer seismischen Zone, wo sich die Afrikanische unter die Eurasische Litosphärenplatte schiebt und dabei die Erdkruste anhebt. So entstehen immer wieder Erdbeben: 200 große sind seit Beginn der Aufzeichnungen im Jahr 1115 registriert worden. Dennoch waren die Häuser nicht besonders standfest, als 1976 die Erde erzitterte. Eine Ursache dafür lag wohl in der Armut dieser Region, die einen der höchsten Anteile an Emigranten in Italien zu verzeichnen hat. Außerdem hatte man nach den Zerstörungen des Zweiten Weltkriegs nur an den schnellen Wiederaufbau gedacht. Und so schien es auch jetzt wieder zu sein.
Eine unglaubliche Welle der Solidarität lief an, und in dieser Situation erwiesen sich die vielen friulanischen Emigranten im Ausland als Segen: Aus Kanada, Argentinien, den USA, Deutschland und Österreich trafen in kürzester Frist Menschen und Material ein, um Zeltstädte, Notkrankenhäuser und Ersatzschulen für die Obdachlosen zu errichten. Die Regierung in Rom tat ein Übriges. Sie ernannte einen Sonderkommissar für das Erdbebengebiet, Giuseppe Zamberletti. Der reiste sofort ins Friaul, im Gepäck ein Gesetz, das die Verantwortung für den Wiederaufbau der Region selbst übertrug. Und diese wiederum gab den Auftrag an die Bürgermeister der einzelnen Gemeinden weiter:

„Das Gesetz ist für Menschen – nicht für die Bürokratie“
Sie waren bevollmächtigt, die Aufbauarbeiten vor Ort zu koordinieren und die notwendigen Anträge zu stellen, denn sie hatten den Überblick, was die Menschen in ihren Gemeinden benötigten. Für jedes Aufbauprojekt, privat oder öffentlich, gab es 40% Anzahlung im Voraus, 40% während der Aufbauarbeiten, und die restlichen 20% wurden nach Fertigstellung der Gebäude erstattet. Das Geld kam vom Staat, von der Region, von der Provinz und aus privaten Spenden. „Alle Geschädigten müssen nach den Vorgaben des Gesetzes entschädigt werden, und das Gesetz wurde für die Menschen, nicht für die Bürokratie gemacht!“ lautete das Credo von Salvatore Varisco, dem Vorsitzenden der regionalen Erdbebenkommission, der mit Zamberletti zusammenarbeitete.
Die Erdbebengeschädigten hatten vor allem ein Ziel: So schnell wie möglich ihre Häuser wieder zu errichten. Sie arbeiteten Tag und Nacht, bis das zweite große Beben vom 15. September alles zerstörte, was noch stand oder halb wieder aufgebaut war. Weil die meisten Leute immer noch in Zelten hausten, gab es nur 12 Tote. Aldo di Bernardo, Tourismus-Chef und Dombaumeister in Venzone, Erdbeben-Überlebender und studierter Erdbebeningenieur, sagt dazu: „So tragisch der Tod dieser Menschen war, muss man doch sagen, dass dieses zweite Beben letztendlich ein Glück für die Region war!“ Denn erst nach der kompletten Zerstörung im September besannen sich Betroffene wie Politiker, den Wiederaufbau systematischer und vor allem erdbebensicher zu betreiben.
Doch es wurden noch andere Maßnahmen ergriffen. In ganz Italien wurde von nun an der Zivilschutz neu aufgebaut. Und auf ein Volksbegehren der Erdbebenbetroffenen hin wurde 1978 in der Provinzhauptstadt Udine eine neue Universität gegründet, an der Studenten sich zu Erdbebeningenieuren, Traumamedizinern oder Restauratoren ausbilden lassen konnten. Heute umfasst diese Universität 10 Fakultäten mit fast 100 verschiedenen Studiengängen für 11000 Immatrikulierte.
Einer, der hier schon vor Jahren seinen Abschluss gemacht hat, ist Aldo di Bernardo. Als kleines Kind hat er in seinem Heimatstädtchen Venzone das Erdbeben miterlebt. Heute stellt Venzone eines der herausragenden Beispiele für den Wiederaufbau dar. An der engsten Stelle des Tagliamentotales gelegen, dort, wo die Straße nach Norden dicht am Fluss entlang führt und die Berge rechts und links auf 2000 Meter ansteigen, war der Ort schon seit römischer Zeit eine wichtige Durchgangsstation für Waren und Menschen. Der Stadtkern stammt aus dieser Zeit: ein mittelalterliches Juwel mit komplett erhaltenen Stadtmauern, einem gotischen Dom und gar einer Kapelle mit Mumien aus dem 17. Jahrhundert – Domherren, die aufgrund eines Pilzes im Untergrund der Kirche in ihren Gräbern konserviert wurden. Wegen des mittelalterlichen Stadtbildes war Venzone 1965 zum „Monumento Nazionale“ erklärt worden. Und im September 1976 war es vollkommen zerstört.
Eine Zeitlang wurde diskutiert, ob der Ort an der alten Stelle wieder aufgebaut oder woanders komplett neu errichtet werden sollte. Dann entschieden sich die Bewohner, die Stadt wieder aufzubauen, wo und wie sie gewesen war, allerdings mit sichtbaren „Nähten“ zwischen stehen gebliebenen Resten und rekonstruiertem Mauerwerk. Die Methode, derer man sich bediente, wird „Anastilosis“ genannt. Dafür werden alle Steine in den Trümmern genau analysiert, katalogisiert und nummeriert, so dass man sie am Ende wie bei einem Puzzle wieder an der richtigen Stelle des Gebäudes einsetzen kann.
Dieses Puzzle wird auf der Erde vorgefertigt, um dann Stück für Stück aufgemauert zu werden. Danach werden die Lücken mit neuen Teilen ergänzt. Etwa 12000 Einzelstücke wurden allein beim Dom auf diese Weise wieder zusammengefügt. Doch zwischen die innere und äußere Mauer wurde nun Beton eingefügt, der eventuellen Erdbeben einen wirksamen Widerstand entgegensetzen kann. Nach und nach wurde die ganze Stadt mit dieser Methode restauriert. Sogar die Mumien haben die Katastrophe „überlebt“ und sind wieder in der Krypta der San-Michele-Kapelle beim Dom ausgestellt.
Venzone ist heute lebendiger denn je, ein beliebter Touristenort mit einem didaktisch hervorragend aufbereiteten Naturkundemuseum, einer malerischen Piazza und verwinkelten Gässchen und Hinterhöfen. Lebten vor dem Erdbeben 200 Einwohner im Zentrum, so sind es heute 400. Im Oktober wird ausgelassen das historische Kürbisfest gefeiert, die „Festa della zucca“. Viele Wanderrouten beginnen in Venzone, und Schulklassen veranstalten ihre Ausflüge hierher. Dann erfahren die Kinder, was ein Erdbeben anrichten kann und was daraus entstehen kann, wenn die Betroffenen schnell unbürokratische Hilfe erhalten und die Region selbst die Organisation des Wiederaufbaus in die Hand nehmen kann.

Erschienen 2010 auf seemoz.de

Das Decameron der Toten – Besuch bei den Mumien von Ferentillo

Heiliges Jahr, 1750. A-Tuan, Sohn eines reichen, chinesischen Mandarins, heiratet die bezaubernde Tänzerin Sommerblume, ein Mädchen aus einfachen Verhältnissen, das zum Hofstaat des Kaisers gehört. Die beiden beschliessen, ihre Hochzeitsreise nach Italien zu unternehmen, und da Sommerblume Katholikin ist, besuchen sie auch die Stadt Petri. Rom ist im heiligen Jahr voller Menschen, aber für viele von ihnen wird diese Pilgerfahrt die letzte Reise sein: Die Cholera bricht aus. A-Tuan und Sommerblume flüchten vor der Epidemie über die Via Flaminia gen Norden, ins Nera-Tal, um bei den Thermalquellen von Triponzo Rettung zu suchen. Sie kommen bis Ferentillo.

Heiliges Jahr, 2000. Ferentillo, Umbrien. Das Nera-Tal verengt sich hier zu einem schmalen Durchgang, der auf beiden Seiten von zinnenbekrönten Festungen bewacht wird. Darunter schmiegen sich die beiden Ortsteile Mattarella und Precetto malerisch an den Berghang. Auf der Staatsstrasse 209 von Rom herkommend biegen wir beim Wegweiser „Museo delle Mummie“ rechts ab, fahren über den Nera-Fluss und parken dann direkt neben der kleinen Piazza. Die Brücke ist neu und breit, wie die Strasse, die Ferentillo in zwei Teile schneidet. Hier in Precetto ist auch die Piazza frisch gepflastert; sie liegt im Tal, aber gleich dahinter steigen die Gassen steil an, im Schatten der mittelalterlichen Häuser. Vor der einzigen Bar sitzen ein paar alte Männer in der Nachmittagssonne. Wir suchen Carlo Favetti, Historiker, Journalist und Presidente des „Pro Loco“, des örtlichen Tourismus-Vereins. Dies sei der richtige Mann für unser Anliegen, hatte uns der Pfarrer am Telefon verwiesen. Aus der Männergruppe löst sich ein charmanter Graubart und fragt nach unserem Begehr. Dann erklärt er uns auf Deutsch – er hat 17 Jahre in Deutschland gearbeitet – Carlo Favetti sei sein Freund und er werde uns zu ihm bringen. Die übrigen Greise schauen neugierig, einer darf noch mitkommen, dann ist der altersschwache Fiat voll, und der Graubart fährt uns auf die andere Seite der Strasse nach Mattarella.

Nun sitzen wir im kleinen, fensterlosen Büro des „Pro Loco“. Uns gegenüber hinter den Schreibtisch gezwängt, zwischen Plakaten von historischen Umzügen und Stapeln von Prospekten, eine Masse Mann mit schwarzem Bart, ein Pavarotti des geschriebenen Worts: Il Presidente Carlo Favetti. Ja, er habe sich intensiv mit der Geschichte Ferentillos beschäftigt, mit dem Herrschergeschlecht der Cybo-Malaspina, die als Papst-Nepoten den kleinen Ort im 15. Jahrhundert zugewiesen bekamen, und mit der Compagnia dei Bianchi, einer religiösen Gruppierung, auf deren Wirken hin das erste heilige Jahr 1300 ausgerufen wurde. Ebenso mit dem örtlichen Advokaten Bucci, der mit 27 Messerstichen getötet wurde, und auch mit den Chinesen, natürlich. Bei der Frage nach den Quellen seiner historischen Erkenntnisse verweist er auf das Buch, das er über Ferentillo geschrieben hat; leider hat er kein Exemplar mehr vorrätig, aber bei der Kirche Santo Stefano können wir es kaufen. Dafür gibt er uns bunte Prospekte über ein historisches Fest mit, und solchermassen beladen fährt uns der Graubart zurück zur Piazza. Nachdem seine Neugier über unsere Mission gestillt ist, zieht er es vor, zu seinen Kollegen an die Bar zurückzukehren, während wir den steilen Aufstieg zur Kirche beginnen, um uns das anzuschauen, was die Geschichte Ferentillos so faszinierend macht.

Es war ein heisser Tag. Die Krankheitssymptome waren bei Sommerblume nun unübersehbar. A-Tuan hielt sie fest an die Brust gedrückt, er streichelte ihre Stirn und trocknete ihr schwarzes Haar, das von Schweiss durchtränkt war. Dann küsste er sie zärtlich.

So fand man die beiden am nächsten Morgen auf den Stufen der Kirche Santo Stefano. Sommerblume hielt in der Hand noch das kleine Goldkreuz, das A-Tuan ihr einst geschenkt hatte.

‚Sommerblume‘ hat den Mund wie zu einem letzten Seufzer geöffnet. Ihr Kopf ist zurückgeworfen und ihre Hände in einer verzweifelt-bittenden Geste verschränkt. Sie trägt noch Reste eines weiten Gewandes. ‚A-Tuans‘ Kopf liegt neben ihr, die Augen geschlossen, zwei gut erhaltene Zahnreihen im offenen Mund. Mehr ist von ihm nicht übrig. Dass überhaupt so viel erhalten ist – das ist die eigentliche Sensation von Ferentillo.

Die beiden Chinesen wurden in der ehemaligen Kirche Santo Stefano begraben, dort, wo alle Dorfbewohner zur Ruhe gebettet wurden, seit um 1500 eine neue Kirche über der alten gebaut worden war. Die Räumlichkeiten des ersten Gotteshauses, das noch direkt in den Fels geschlagen war, wurden nun einfach als Friedhof genutzt. So konnten die Toten in geweihter Erde ruhen, aber diese Erde war nicht nur geweiht, sie enthielt auch einen Mikropilz, der die Verwesung unterband und die Leichen mumifizierte. Andere Faktoren wie der poröse Untergrund, der wasserbindendes Kalknitrat und Kalziumchlorid enthält, und ein beständiger Luftzug durch die nicht verschliessbaren Fenster kamen hinzu. Und so wurden dort, wo die verschiedenen Phänomene zusammenwirkten, aus den Verstorbenen „le mummie“.

Der Erhaltungszustand dieser Mumien ist erstaunlich gut. Die Universität Perugia stellte schon im 19. Jahrhundert Untersuchungen an, die ergaben, dass die inneren Organe in verschrumpelter Form noch vorhanden sind. Bei manchen Toten kann man Bart und Haare erkennen, ja sogar die Augäpfel stecken teilweise noch in ihren Höhlen. Federleicht sind die Körper, als ob ihr Gewebe zu Papier geworden wäre. Mit einem toten Falken haben die Wissenschaftler getestet, wie lange die Mumifizierung dauert: Nach einem Jahr ist der Prozess abgeschlossen und die Umwelteinflüsse können dem getrockneten Leib nichts mehr anhaben.

Etwa 15 Mumien kann man heute besichtigen im Museum in der ehemaligen Kirche. Die von der Pfarrgemeinde beauftragte Führerin betont allerdings, dass es sich dabei immer noch um einen Friedhof handle. Zwar wurde seit 1800 niemand mehr hier begraben, aber an Allerseelen trifft sich die Gemeinde zwischen den bleichen Verblichenen zur Messe, und bereits am Eingang mahnt ein Schild: „Ihr seid, was wir waren. Wir sind, was Ihr sein werdet. Gedenke o Mensch, dass du sterblich bist!“ So eingestimmt tritt man vom hellen Tageslicht in einen spärlich erleuchteten Raum, auf dem ein schweres, tiefhängendes Gewölbe lastet. An den Wänden finden sich noch Fragmente von mittelalterlichen Wandbildern und im ehemaligen Kirchenschiff steht ein Altartisch. Zwischen den Pfeilern sind Vitrinen aufgestellt, in denen die Mumien ihre allerletzte Ruhestätte gefunden haben. Das dämmrige Dunkel und die flüsternde Stimme der Führerin tragen dazu bei, dass man wie von selbst ehrfürchtig verstummt im leibhaftigen Angesicht des Todes.

Das Besondere an den Mumien von Ferentillo ist die Tatsache, dass sie unfreiwillig konserviert wurden. Während in Ägypten oder auch in den Kapuzinerkatakomben in Palermo die Lebenden genaue Anweisungen für ihre Behandlung und Zurschaustellung nach dem Tode gaben, ahnten die Sterbenden hier nicht, welches Schicksal ihren Körpern bevorstand. So, wie sie starben und im Kirchenfriedhof in die Grube gelegt wurden, so stellen sie sich heute dem Besucher dar. Und während sich in Palermo nur die Begüterten eine Mumienbestattung leisten konnten, finden wir in Ferentillo einen Querschnitt durch alle Bevölkerungsschichten: vom Advokat bis zum napoleonischen Soldat, vom Priester bis zur jungen Mutter, die im Kindbett den Tod fand. Eine Frau starb an der Pest; auf ihrer Haut sind noch die Löcher zu erkennen, die die Krankheit hineingefressen hat. Bei einer anderen ist das komplette Gewand mit blauem Karomuster einschliesslich Mütze erhalten. Ein Mann wurde offensichtlich vor seinem Tod gefoltert; die Spuren kann man an Handgelenken und Knien deutlich sehen. Der Tote neben ihm wurde gehenkt, auch dies an der Haltung klar zu erkennen. Wieder ein anderer stürzte von einem Turm zu Tode und biss sich dabei auf die Zunge, die immer noch zwischen seinen Zähnen steckt. Ein Säugling mit Hydrozephalus, die Hände zusammengebunden, in der Vitrine daneben. Die junge Mutter, im Tod mit ihrem Neugeborenen wieder vereint. Und die Chinesen.

Natürlich drängt sich die Frage auf, ob es ethisch gerechtfertigt ist, diese toten Menschen, die ein purer geo-biologischer Zufall vor der Verwesung bewahrt hat, so zur Schau zu stellen. Es ist dieselbe Frage, die im Zusammenhang mit der Ausstellung „Körperwelten“ diskutiert wurde (und jetzt in Berlin wohl wieder wird) und die auch bei ägyptischen Mumien immer wieder gestellt wird. Unabhängig von Religion und Weltanschauung gibt es dazu sehr unterschiedliche Meinungen. Der Anblick dieser Menschenhüllen verschafft dem Betrachter in der Tat einen „brivido“, einen Nervenschauer, und wer dies schon als an sich verwerfliche Sensationslust empfindet, der kann diese Frage nur mit „nein“ beantworten. Auch die Verletzung der Totenruhe, der letzten Intimsphäre des Menschen, ist ein häufig angeführtes Argument gegen derartige Ausstellungen. Andererseits werden die Mumien von Ferentillo sehr dezent und – wie oben beschrieben – nur unter Anleitung präsentiert. Ohne grosses Pathos sind sie in ihren Vitrinen arrangiert. Für das ärmliche Dorf stellen sie auch eine Prestige- und Einnahmequelle dar, denn wo die Touristen sonst auf der S 209 nur durchrasen würden auf dem Weg nach Norcia oder zur berühmten Benediktinerabtei ‚San Pietro in Valle‘, führt das Hinweisschild des Mumienmuseums sie nun in den Ort hinein. Aber die Beziehung der Einwohner Ferentillos zu „ihren“ Mumien erschöpft sich nicht in diesem eher monetären Aspekt. Einen Beleg dafür bietet Carlo Favettis Buch: „Le mummie di Ferentillo“.

Hiess ‚Sommerblume‘ tatsächlich Sommerblume? Und war ‚A-Tuan‘ wirklich der Sohn eines Mandarins? Handelt es sich bei den beiden überhaupt um Chinesen? Die Geschichte, die eingangs erzählt wurde, stammt aus „Memento Homo“, jenem Teil von Favettis Buch, in dem er zu den eindrucksvollen Fotografien von Anna Maria Pennacchi über jede Mumie eine Geschichte erzählt. Manche dieser novellenartigen Darstellungen gehen auf Dorfklatsch zurück, wie jene von dem Advokaten, der von drei Männern mit 27 Messerstichen niedergestreckt wurde. Sein Leichnam ruht in einem verschlossenen Sarg, weil die Nachkommen immer noch in Ferentillo leben und es so bestimmt haben. Einer der Mörder jedoch wurde im nächtlichen Handgemenge ebenfalls getroffen; er steht in einer Vitrine neben dem Sarg und hält sich bis heute mit der Hand den Leib an der Stelle, wo der tödliche Messerstich eindrang.

Andere Geschichten, wie die von A-Tuan und Sommerblume, basieren auf spärlichen historischen Fakten. Während des heiligen Jahres 1750 brachten die Pilger tatsächlich verschiedene Krankheiten nach Rom, aber in medizinhistorischen Werken ist von Pest und Typhus die Rede; die erste Choleraepidemie verbreitete sich in Europa erst im Jahr 1817. Auch ist es fast undenkbar, dass eine kaiserliche Tänzerin in China zu jener Zeit Katholikin war, denn das Christentum war dort seit 1724 verboten und konnte sich nur in abgelegenen Dörfern halten. Und dass die beiden auf Hochzeitsreise waren, ist wohl eine romantische Projektion der italienischen „Luna di miele“, denn von China nach Italien war man über ein Jahr unterwegs – eine harte und gefährliche Reise, die nur wenige Handeltreibende freiwillig auf sich nahmen. So bleiben letztendlich kaum historische Anhaltspunkte für die Beantwortung der Frage, wie und warum die drei Asiaten (neben ‚A-Tuan‘ und ‚Sommerblume‘ gibt es noch eine weitere Mumie mit asiatischen Gesichtszügen) im 18. Jahrhundert in ein entlegenes italienisches Dorf kamen, um dort zu sterben.

Viele von Favettis Erzählungen aber sind einfach reine Fiktion, und manchmal widersprechen sie sogar dem kleinen, offiziellen Führer der Pfarrgemeinde. Dort wird zum Beispiel vermutet, dass der ‚Gefolterte‘ und der ‚Gehenkte‘ napoleonische Soldaten waren, die fahnenflüchtig ergriffen und grausam zu Tode gebracht wurden. Bei Favetti hingegen wird der ‚Gehenkte‘ zum Selbstmörder.

Das ist zunächst irritierend für einen Leser, der sich von Titel und Aufmachung des Buches her historisch korrekte Informationen über die Mumien versprochen hat. Aber vielleicht ist die historische Wahrheit der von Favetti erzählten Geschichten gar nicht so wichtig. Es sind Märchen, entsprungen einer Phantasie, die sich am Anblick dieser vor über 200 Jahren lebendigen Menschenhüllen entzündet hat. Und wie in Märchen üblich, haben die meisten Geschichten eine Moral. Die junge Frau, die bei der Geburt ihres Kindes starb, war zuvor vom Vater verstossen worden, der sein Handeln nun tief bereute. Der Erhängte hatte trotz Warnung seiner Eltern das gesamte Familienvermögen verschwendet, und so erfüllte sich sein Schicksal am Ast eines hohen Baumes.

Manche Geschichten lassen auch an Boccaccio denken, an die Novellen des Decameron, die von zehn jungen Leuten auf der Flucht vor der Pest erzählt werden. In Ferentillo sind es die an der Pest und anderen Unbilden bereits Gestorbenen, die durch die Feder Favettis ihre Geschichten erzählen. Unbekannt und in Chroniken ungenannt, sind diese ‚einfachen Leute‘ im anonymen Strom unter der offiziellen Geschichtsschreibung verschwunden. Die Natur hat ihre Körper zwar dem Vergessen entrissen, aber ihren Anteil an der menschlichen Geschichte und damit ihre Würde erhalten sie erst durch die Erfindungen des Historikers und Dichters Favetti zurück. Aufgrund seiner Geschichten werden die stummen Mumien zum Exempel, ja zur Projektionsfläche für die Ängste und Wünsche der Besucher, die sich mit den immergleichen menschlichen Problemen um Liebe, Krankheit, Ehre, Tod abplagen. Die Toten von Ferentillo sind somit im konkreten wie im übertragenen Sinne wieder auferstanden.

Das letzte Wort dem Dichter Carlo Favetti: „Hör / meine Worte/ sie sind ein Rauschen / fortgewischter Blätter im eisigen Wind/ …/ der niemals die Schatten der Erinnerung/ wird zerstören können.“

Veröffentlicht 2000 in der Frankfurter Rundschau und der Weltwoche.

Quellen für Texte und Fotos:

  • Carlo Favetti, Le mummie di Ferentillo. Verlag Quattroemme, Perugia 1992
  • Ferentillo e le sue meraviglie, il Museo delle Mummie e la chiesa di Santo Stefano. Führer der Pfarrgemeinde Santo Stefano, Ferentillo 1994
    Mit freundlicher Genehmigung von Carlo Favetti und Don Fabrizio Maniezzo.

Anreise: Über die Autobahn A1 bis Orte, dann über Terni ins Neratal (S 209).
Übernachten: In der romantischen Benediktinerabtei San Pietro in Valle (5 km von Ferentillo entfernt), die zum Hotel umfunktioniert wurde.

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